Seite 21/ Frankfurter Rundschau / Nr. 73 / FEUILLETON / Freitag, 27. März 2001

Nieder mit Eurer Liebe

 

Das Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg zeigt die Russische Avantgarde. VON ULRIKE BALS

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Am Mittag des 9. Januar 1905 marschierte eine hungrige Menschenmenge zum Schlossplatz von St. Petersburg: Arbeiter, Frauen und Kinder. Sie trugen Heiligenbilder, sangen Choräle und waren unbewaffnet. Als sie am Winterpalais ankamen, um von ihrem Kaiser Nikolaus II. Brot und Gerechtigkeit einzufordern, ließ dieser auf sie feuern. Fast zweitausend Verwundete und mehr als tausend Tote waren das traurige Resümee, mit dem der "blutige Sonntag" in die Geschichte Russlands eingehen sollte. Doch in seiner Borniertheit begriff der letzte Zar weder, welches Massaker er angerichtet hatte, noch welche fatalen Folgen es haben könnte. Stattdessen verhöhnte er seinen Innenminister Alexander Bulygin mit den Worten: "Es sieht ja aus, als befürchteten Sie den Ausbruch einer Revolution!" - "Majestät", antwortete dieser, "die Revolution hat bereits begonnen."

Der Untergang des russischen Zarismus, von heftigen politischen Unruhen und sozialem Elend begleitet, bildet zugleich auch den Nährboden für eine Kunst, wie sie kraftvoller und optimistischer nicht sein könnte. Die russische Avantgarde der 10er und 20er Jahre des letzten Jahrhunderts war beflügelt von dem Willen, die Welt neu und besser zu erfinden: "Nieder mit eurer Liebe! Nieder mit eurer Kunst! Nieder mit eurer Ordnung! Nieder mit eurer Religion!" schleudert 1915 der russische Dichter Wladimir Majakowskij dem Bürgertum entgegen. Mit seinen lyrischen, zuweilen beißend sarkastischen Schriften ist er der geistige Wegbereiter der revolutionären Kunst. Wie er glauben auch die anderen Avantgardisten, mit künstlerischen Mitteln aktiv an der Gestaltung der neuen, sozialistischen Gesellschaft mitwirken zu können. Eine Hoffnung, die mit der Oktoberrevolution der von Lenin geführten Bolschewiken 1917 zunächst auch real zu werden schien.

Die Ausstellung Mit voller Kraft. Russische Avantgarde 1910 bis 1934 im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe dokumentiert diesen einzigartigen künstlerischen Neubeginn - und zugleich auch dessen Scheitern. Mehr als 500 Exponate aus bedeutenden Sammlungen Russlands und Westeuropas wurden zusammengetragen: Malerei, Plastik, Fotografie, Grafikdesign, Plakat und Textil, Theaterkostüm und Bühnenbild, Architektur und Keramik. Das Rahmenprogramm erweitert den Horizont in Richtung Literatur, Film und Musik. Eine Multivision gibt Einblick in die historischen Zusammenhänge, während sechs räumlich gegliederte Themenabschnitte ein umfassendes Panorama jener revolutionären Epoche schaffen.

Schon der Eingangsbereich der Ausstellung leuchtet im flammenden Rot der Revolution. "Die Zukunft ist unser einziges Ziel" verkünden die bunten Agit-Prop-Plakate. Doch Wladimir Jewgrafowitsch Tatlins hölzernes Einmannfluggerät Letatlin von 1926, das hoch über den Köpfen der Besucher seine fragilen Schwingen ausbreitet, erinnert nicht nur an die Freiheitssehnsucht, sondern auch an die Zerbrechlichkeit des utopischen Traums.

Die Russische Avantgarde ist keine einheitliche Richtung. Vor allem in den Metropolen Moskau und St. Petersburg wetteifern konkurrierende Künstlergruppen um die Lösung der Kernfrage, wie die Kunst der Zukunft auszusehen habe. Aus dem anfänglichen Experimentieren mit westlichen Trends, wie Kubismus, Futurismus und Moderne, entstehen schon bald eigene Richtungen. In der Ausstellung werden die einzelnen künstlerischen Entwicklungsetappen - von den Anfängen der revolutionären Kunst bis zum Übergang in den Sozialistischen Realismus - relativ chronologisch nachvollzogen. Programmatische Kunst russischen Ursprungs entwickelt um 1911 erstmals Michail Larionow mit dem Rayonismus. Seine in prismatische Licht- und Farbflächen zerlegte Malerei, wie etwa bei seinem Hahn von 1912, gilt als erster Versuch einer gegenstandslosen Kunst. Für ihn nur eine Episode - er malt gleichzeitig zusammen mit Natalia Gontscharowa primitivistische Figurenbilder - doch er gibt damit bahnbrechende Impulse für die Post-Symbolistische Kunstreform.

Nur ein Jahr später gelingt Kasimir Malewitsch mit dem Suprematismus der Durchbruch zur vollkommenen Abstraktion. Sein legendäres Schwarzes Quadrat auf weißem Grund - die Ausstellung zeigt eine Variation von 1928 - wird zum Symbol einer freien, staatsunabhängigen Kunst. Sein größter Rivale Tatlin entwickelt 1915 aus den Konterreliefs - dreidimensionalen Assemblagen aus Holz, Metall und Glas - den technikfaszinierten Konstruktivismus.

Seinem wohl berühmtesten Bauwerk, dem utopischen Entwurf für das Denkmal der III. Internationale, das über dem Neva-Fluss errichtet und mit 400 Metern Höhe selbst den Eiffelturm noch überragen sollte, begegnen die Sowjetführer allerdings mit Skepsis. Der zentral in der Ausstellung gezeigte Nachbau des originalen Holzmodells von 1919 verfälscht leider dessen markanten Charakter durch allzu konkrete Darstellung.

Nach der Oktoberrevolution soll die Avantgarde als nunmehr "offizielle Kunst" zur Gestaltung des proletarischen Alltags eingesetzt werden. Die in der frühen Experimentierphase entwickelten Techniken kommen jetzt zur Anwendung. Besonders Alexander Rodtschenkos Agitationsplakate und Fotografien treffen mit ihrem dynamischen Bildaufbau den Nerv der Zeit.

Doch ab Mitte der 20er Jahre wird der revolutionäre Pathos der Avantgarde zunehmend für staatliche Agitation und Propaganda instrumentalisiert und zensiert. Sie soll einen Fortschritt dokumentieren, der in Realität gar nicht stattfindet. Schließlich werden 1932 alle freien Künstlerverbände geschlossen. Zwei Jahre später erklärt Stalin den Sozialistischen Realismus mit seinen kolossalen Heldendarstellungen zur ausschließlichen Kunstform. Es ist das Ende der revolutionären Avantgarde.

Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, bis 10. Juni.

 

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